Vogelführungen

Vogelbilanz nach 50 Jahren

Quelle: Dr. Michael Lohmann / 08.05.2008

Vogelbilanz nach 50 Jahren: Die Brutvögel des Chiemgaus

Als Student "entdeckte" ich vor 50 Jahren mit meinem ebenfalls in München Biologie studierenden Freund Andreas Suchantke die faszinierende Vogelwelt des Chiemsees. Zwar kannte und liebte ich den Chiemsee und die Vögel bereits seit meiner Kindheit in Marquartstein, aber der Schritt zur konzentrierten und systematischen Naturbeobachtung gelang erst während des Studiums und unter Anleitung meines in der Vogelkunde bereits fortgeschrittenen Freundes. Das war im Jahr 1957.

Bereits 1960 wagten wir uns mit unserem schon in seiner Marquartsteiner Schulzeit von seinem Biologielehrer, Dr. Heinrich Frieling, in die Vogelkunde eingeführten Freund Görge Hohlt an eine Veröffentlichung unserer Beobachtungen. "Die Vögel des Schutzgebietes Achenmündung und des Chiemsees" lautete der ziemlich anspruchsvolle Titel unserer 50-seitigen Schrift im renommierten "Anzeiger der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern".

Wer sich einen Überblick über die Vogelwelt eines Gebietes verschaffen möchte, wird ein umso vollständigeres und differenzierteres Bild bekommen, je mehr exakt notierte Beobachtungsdaten zur Verfügung stehen. Leider gingen nach 1964 Beobachtertätigkeit sowie Datenerfassung und -auswertung wieder stark zurück: Der Beruf zerstreute unser Trio in alle Richtungen.

Erst Anfang der 1980er Jahre begann die Zahl der erfassten Beobachtungen wieder zu steigen. 1985 kehrte ich in die alte Heimat zurück und sorgte für die digitale Erfassung der eigenen Daten und der Beobachtungen einer wachsenden Zahl von "Birdwatchern". Von wenigen hundert Beobachtungen im Jahr stieg ihre Zahl auf über 6.000 im Jahr 1996. Seither schwanken die "gemeldeten" Beobachtungen zwischen 3.000 und 5.000 jährlich. Mit anderen Worten: Unsere Kenntnisse über die Vögel unseres Gebietes haben erfreulich zugenommen - auch wenn sie in quantitativer Hinsicht immer noch unbefriedigend sind: Über die Häufigkeit vieler Brutvögel gibt es nur relativ grobe Schätzungen, besonders bei den Vögeln der Berge.

Trotzdem lohnt sich ein Blick zurück. Was hat sich in der Vogelwelt des Chiemgaus verändert in den letzten 50 Jahren? Ist es mit allen Brutvögeln bergab gegangen, wie oft vermutet wird? Und wie schaut es bei den Gastvögeln aus, die bei uns überwintern, übersommern oder auf dem Durchzug rasten? Werfen wir zunächst einen Blick auf die Brutvögel.

Bis 2007 konnten insgesamt 168 Wildvogelarten festgestellt werden, die gelegentlich oder regelmäßig hier brüten oder gebrütet haben. Man kann sie (mit sanfter Gewalt) 5 Gruppen zuordnen:
(1) Neue Brutvögel, die sicher oder mit hoher Wahrscheinlichkeit vor 1965 nicht hier heimisch waren; die meisten haben sich erst nach 1970 angesiedelt.
(2) Vogelarten, deren Brutpopulationen zugenommen haben.
(3) Vogelarten, deren Brutpopulationen abgenommen haben.
(4) Verschwundene Brutvogelarten, die seit mindestens 25 nicht mehr bei uns gebrütet haben.
(5) Mehr oder weniger stabile Brutvogelarten, deren Populationen keinen deutlichen Trend erkennen lassen bzw. Arten, über deren Brutvorkommen Unklarheit besteht.

Die Zahl der nach 1965 erstmals in unserem Gebiet brütenden Vogelarten ist mit 20 erstaunlich hoch. Zu ihnen gehören als inzwischen regelmäßige Brutvögel: Schwarzhalstaucher, Kormoran, Schwarzstorch (noch nicht ganz sicher), Graugans, Kolbenente, Schellente, Gänsesäger, Schwarzmilan, Mittelmeermöwe, Uhu, Schwarzkehlchen und Karmingimpel. Mindestens 6 Arten müssen zu den Brutgästen gezählt werden, die nur gelegentlich brüten oder gebrütet haben. Zu ihnen gehören Weißstorch, Kanadagans, Knäk- und Löffelente, Trauerschnäpper und Beutelmeise.

Die "alteingesessenen" Brutvögel im (schwachen) Aufwind lassen sich fast an einer Hand abzählen. Es sind: Steinadler, Wanderfalke, Türkentaube, Mönchsgrasmücke, Rabenkrähe und Birkenzeisig. Zu ihnen kann man natürlich auch einen Großteil der neuen Arten zählen. Beide sich positiv entwickelnden Gruppen umfassen zusammen 26 Brutvogelarten.

Zu den Vogelarten, die im Chiemgau seit mindestens 20 Jahren nicht mehr, früher aber regelmäßig gebrütet haben, gehören nach unserer Einschätzung: Zwergdommel (vielleicht wieder?), Rotschenkel, Wiedehopf und Raubwürger. Zu ihnen müsste man aber auch 6 frühere Brutgäste zählen, die nach 1965 nicht mehr gebrütet haben: Rohrdommel, Purpurreiher, Wiesenweihe, Sturmmöwe, Sumpfohreule und Rotkopfwürger. Ein Verlust von 10 Brutvogelarten.

Mit 24 ist die Zahl der abnehmenden Vogelarten bedauerlich groß. Zu den bekannteren gehören: Birkhuhn (hat sich aus den Mooren in die Berge zurückgezogen), Wachtelkönig, Brachvogel und Fluss-Seeschwalbe (alle nahezu erloschen), Kiebitz, Bekassine und Feldlerche (mit starkem Rückzug aus der Fläche), sowie Gartenrotschwanz und Pirol.

Ob die große Zahl von 108 heimischen Brutvogelarten, bei denen keine eindeutig positiven oder negativen Tendenzen erkennbar sind, Grund zur Freude sein kann, muss ein wenig bezweifelt werden. Denn dieser Befund liegt in vielen Fällen auch daran, dass wir entschieden zu wenig belastbare Vergleichszahlen haben.

Das Fazit aus diesen Befunden: Obwohl viele Lebensräume des Chiemgaus im Lauf der letzten 50 Jahre Schweres erdulden mussten, hat sich die Brutvogelwelt doch als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen. Die Zahl der Neubrüter (14 regelmäßige + 6 Brutgäste) ist doppelt so groß wie die der verschwundenen Brutvögel (4 regelmäßige + 6 Brutgäste). Die Gründe für das Verschwinden dieser Arten sind auch überregional zu suchen; etliche dieser Vogelarten sind auch bayern- bzw. bundesweit stark zurückgegangen oder erloschen.

Beunruhigend ist das Missverhältnis zwischen zunehmenden und abnehmenden "Alt"-Brutvögeln: Auf 1 zunehmende Art kommen 4 abnehmende! Darunter sind solche, die wohl bald auf der Liste der verschwundenen Arten stehen werden. Etwas günstiger wird das Verhältnis von zu- und abnehmenden Brutvögeln, wenn man die Neusiedler den zunehmenden Arten und die erloschenen den abnehmenden zuzählt. Dann ist das Verhältnis 26 : 34, oder anders gesagt: auf 1 prosperierende Brutvogelart kommen 1,3, denen es schlecht ging in den letzten 50 Jahren.

In einem gesonderten Beitrag sollen die 125 Gastvogelarten und die 24 Gefangenschaftsflüchtlinge betrachtet werden. Alle Vogelarten zusammen ergeben die erstaunliche Zahl von 317 Arten. Die noch etwas umstrittenen 8 Arten gar nicht gerechnet. Damit zählt der Chiemgau zu den vogelartenreichsten Landschaften in Deutschland.

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